Der Begriff Accords nouveaux (neue Stimmungen) bezieht sich auf Stimmungen, die spätestens ab 1622 auf der Laute benutzt wurden.
Die Laute ist der Oberbegriff für eine grosse Zupfinstrumentenfamilie. Das Hauptmerkmal dieser Familie ist der Klangkörper (Korpus), der die Form eines der Länge nach halbierten Tropfens mit einer mehr oder weniger flachen Decke aufweist. Der Hals schliesst an das auslaufende Ende des Korpus an und weist je nach Lautentyp verschiedene Ausformungen auf: mit abgeknicktem Wirbelkasten oder/und mit verschiedenen Formen der Halsverlängerung für die Bass-Saiten.
Die Laute wurde in Europa spätestens ab dem 14. Jahrhundert gespielt. Im Verlauf der Jahrhunderte wurden vielerlei Typen für die unterschiedlichen Anforderungen und Verwendungszwecke entwickelt. Um 1800 verschwand die Laute fast ganz aus dem Musikleben, um gegen Ende des 19. Jahrhunderts langsam wieder aufzutauchen.
Einen Überblick über die verschiedenen Lautentypen, die Begründungen für die Entwicklungen und eine Einführung in die Welt der Tabulatur (Griffschrift) bietet das Buch "Die Laute in Europa 2“ bzw. die Einführung auf dieser Seite: Link zu "Instrumente – die Lautentypen"
Grundlegendes zur Stimmung (französisch „accord“)
Ich spreche gerne von von nominellen Stimmungen, weil die Grösse der Laute bzw. die Reissgrenze des Saitenmaterials die höchste Frequenz, in welcher eine Laute gestimmt werden kann, vorgibt.
Kennt man die Frequenz, kommt der Stimmton dazu, der bis zu fünf Halbtöne variieren kann: Dieselbe Laute kann je nach Stimmton maximal auf f', fis', g', gis' oder a' gestimmt werden - und all diese Stimmtöne bezeichnen dieselbe Frequenz! Der Stimmton variiert je nach geographischer Region und innerhalb der Region je nach musikalischer Funktion (siehe die Unterscheidung in Chorton für das kirchliche Umfeld und Kammerton für die höfische / bürgerliche Umgebung).
Deshalb ist es oft nicht sinnvoll, eine Tonhöhe anzugeben (die wir heute dann meist noch auf a' = 440 Hz beziehen), sondern die Intervalle von Chor zu Chor – also die relative Stimmung. Hierzu hat sich das Traficante-System als praktisch erwiesen, das die Intervalle von Chor zu Chor mit Tabulaturbuchstaben definiert. François-Pierre Goy und ich haben dieses System auf die besonderen Anforderungen von Zupfinstrumenten angepasst (siehe Abhandlung - Accords).
Vom Vieil ton über die Accords nouveaux bis zum Nouvel accord ordinaire (NAO)
Im 16. Jahrhundert wurde die normalerweise 6-chörige Laute in reinen Quarten und einer grossen Terz zwischen dem 3. (dritthöchsten) und 4. (vierthöchsten) Chor gestimmt (ffeff – zu dieser Stimmungsanweisung siehe Abhandlung - Accords). Der "Grundton" der Stimmung hängt von der schwingenden Saitenlänge (Mensur) des Instruments ab. Die üblichsten nominellen Stimmungen waren diejenige in a (a' e' h g d A) resp. g (g' d' a f c G). Diese Stimmung besteht also aus zwei Quarten, einer Grossterz und zwei Quarten. Diese Stimmung (accord) wurde später "vieil ton" genannt.
Im Gegensatz zum Vieil ton taucht 1638 eine Stimmung auf, in der alle 6 hauptsächlich gegriffenen Chöre in einem Moll-Akkord gestimmt sind. Heute wird diese Stimmung missverständlich als d-Moll-Stimmung bezeichnet (f' d' a f d A – hier "nouvel accord ordinaire" oder abgekürzt NAO – als Stimmungsanweisung auch dfedf – genannt). Der NAO setzt sich ab ca. 1640 für die sechs am meisten gegriffenen Chöre der Barocklaute durch.
Unter den "accords nouveaux" versteht man nun diejenigen Lautenstimmungen, die sich einerseits noch an den "vieil ton" anlehnen, sich aber auch schon deutlich von ihm unterscheiden, andererseits aber noch nicht dem "nouvel accord ordinaire" (NAO) entsprechen. Die "accords nouveaux" wurden vereinzelt bis gegen 1710 neben dem NAO verwendet und sind in deshalb nicht "nur" Übergangsstimmungen, sondern durchaus auch als eigenständige Stimmungen zu sehen.
Weshalb nun gegen 1622 der "vieil ton" in Frankreich (nicht aber in Deutschland) für solistische Lautenmusik (und nicht für Continuo) verlassen wurde und Experimente mit verschiedenen neuen Stimmungen – den "accords nouveaux" – begannen, wird von keiner historischen Quelle begründet. Unsere Erklärungsversuche sind also Hypothesen.
Der Begriff "accords nouveaux" geht auf die Sammlungen von 1631 und 1638 aus der Offizin Ballard zurück mit dem Titel "Tablature de Luth de differens autheurs sur les accords nouveaux". Es gibt mehr Stimmungen als diejenigen, die in Ballards Drucken vorkommen. Somit ist es bei denjenigen Stimmungen, die in Ballards Drucken nicht vorkommen, Ermessensfrage, welche trotzdem den "accords nouveaux" zugehörig betrachtet werden und welche nicht. Diese Seite richtet sich mindestens vorläufig nach den 12 Stimmungen, die François-Pierre Goy in seiner Abhandlung als "accords nouveaux" akzeptiert hat. Die Liste ist hier als PDF herunterzuladen.
Oben sind die am weitesten verbreiteten Stimmungen vom Vieil ton bis zum Nouvel accord ordinaire aufgeführt, ganz links im Traficante-System, dann folgt die historische Bezeichnung, dann die Verbreitung (z.B. 121 Stücke in 15 Quellen). Der gesamte Tonumfang vom 1. bis 6. Chor wird anschliessend in Halbtönen ausgedrückt (24 HT = 2 Oktave). Anschliessend kommt die Umsetzung in Notennamen, wenn man den 6. Chor als in A gestimmt annimmt. Zuletzt wird angegeben, wann die Stimmung erstmals auftaucht (wobei wir den massiven Quellenausfall immer mitdenken müssen und somit Abweichungen durchaus möglich sind).
Auf der unteren Darstellung sind dieselben sieben Stimmungen farbig in den Tonraum von zwei Oktaven (a' bis A) eingetragen, wobei der 1., 5. und 6. Chor durch spezielle Farben hervorgehoben sind. Dabei wird ersichtlich und in der untersten Zeile verdeutlicht, dass der 1. Chor von a' zu g', dann zu fis' und letztlich zu einem f' wird. Er wird also vom Vieil ton her gesehen um eine Grossterz gelockert.
Der 2. und 4. Chor werden je um eine grosse Sekunde gesenkt, wobei dies mit dem 4. Chor erst im letzten Schritt zum NAO geschieht.
Der 3. Chor entscheidet zuerst über "B quarré / b molle" – also modern gesprochen Dur oder Moll –, bevor er bevor er auf a gestimmt wird.
Der 5. und 6. Chor bleiben stabil.
Hier kann man die Stimmungen hören und die historischen Bezeichnungen anschauen:
- ffeff: Vieil ton
- fdeff: Ton de la harpe par bé carré
Historische Bezeichnungen:
ton de harpe de B [Auflösungszeichen] et Ton de la harpe par [Auflösungszeichen] (34-D-Us 132, S. 58 und Fol. IVv)
Ton de la harpe par b dur (2-CH Bu 53, Fol. 19v)
harpway (36-Board, Fol. 32v)
The highest tuning of the lute with 1st string tuned up half a note (1-Balcarres, S. 218 – also eine Variante von Accord nouveau edeff) - fedff: Ton de la harpe par bé mol
Historische Bezeichnungen:
Ton de la Harpe par b mol, Ton de la harpe par b (34-D-Us 132, S. 66 und IVv)
Ton de la harpe par b mol (2-CH-Bu 53, Fol. 25v)
Harpe-way, Tuning flat-way or Lawrence (18-Pickering, Fol. 44) - edeff: Ton de tierce par bé carré
Historische Bezeichnungen:
Ton de tierce par B [Auflösungszeichen] (34-D-Us 132, S. 64);
Tuning Gautier (18-Pickering, Fol. 45);
accord nouveau par [Auflösungszeichen] quarre (45-Mersenne 1636-I, S.91a);
B quare (20-S-N 1122, Fol. 1);
Pecard (38-CH-Zz 907, Fol. 18 und 21v);
sharp; The sharp tun uhich called gautirs tune (13-Wemyss, Fol. 26v);
The highest tuening of the lute (1-Balcarres, S. 216; vgl. fdeff) - dedff: Ton ravissant / flat tuning
Historische Bezeichnungen:
[Accord nouveau] par b mol (45-Mersenne 1536-I, S. 91a)
B Mol (20-S-N 1122, Fol. 1)
flat, flatt (13-Wemyss, Fol. 32v etc.)
flat tuning (26-GB-Ob E 411, Fol. 78)
Le ton rauissant (31-US-R 186, S. 55)
bémol (38-CH-Zz 907, Fol. 6 etc.)
Flat-French-Tuning (49-Mace 1676, S. 83)
vieux Bemol simple (F-AIXméj Ms. Rés. 17, Fol. 97) - ddeff: Accord de tierce
Historische Bezeichnung:
Accor de tierce (34-D-Us 132, S. 56)
Par Becard hormy la huitiesme et la chante[relle] par Bemol (38-CH-Zz 907, Fol. 12v
flat saue the 3 sharp (13-Wemyss, Fol. 32v) - dfedf: NAO (nouvel accord ordinaire, von A aus gerechnet d-Moll-Stimmung; es gibt aber Stücke für unterschiedlich hoch gestimmte Barocklauten [z.B. Radolt mit Barocklauten, deren Chanterelles in c', es' und f' gestimmt sind] und ergo ist diese Stimmung relativ zu verstehen!)
Die Accords nouveaux stehen nicht isoliert da: Lyra viol, Mandore und Barockgitarre
Im ähnlichen Zeitraum wurden auf der Lyra viol – einer Art Viola da Gamba – viele Stimmungen ausprobiert, die zum Teil mit "accords nouveaux" der Laute übereinstimmen. Ebenso wurde mit der Stimmung der Mandore und der Barockgitarre experimentiert. Um hier Querverbindungen zu ermöglichen, werden diese drei Instrumente und deren Stimmungen ebenfalls dargestellt. Hier der Link zur Seite, welche sich um die Lyra-Viol kümmert, hier der Link zur Mandore und hier der Link zur Barockgitarre.
Fest steht, dass im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert auch ein ästhetischer Wandel stattgefunden hat und die Laute spieltechnisch auf neue Weise behandelt wurde. Ebenso wurde die Anzahl Chöre der solistisch eingesetzten Laute nach und nach auf 11 resp. 12 gesteigert und die Basschöre ab dem 6. Chor werden ab 1611 in einer diatonischen Tonleiter gestimmt.
Weil die Notation der solistischen Lauten-, Lyra viol-, Mandore- und Barockgitarrenmusik fast ausschliesslich in Tabulatur (einer Griffschrift) erfolgte, war die Verwendung verschiedener Stimmungen unkompliziert und kann die jeweils verwendete Stimmung aus der Tabulatur abgeleitet werden.