Nutzungskonzepte für Zupfinstrumente (A. Schlegel)
Wodurch unterscheiden sich die Spieltechniken der Barocklaute von derjenigen der Renaissancelaute oder der Mandora? Was wird bei den jeweiligen Spieltechniken und den dazugehörigen Instrumenten von der Greifhand und was von der Zupfhand verlangt – und weshalb?
Am Symposium "Mandora & Galichon" vom 5. Mai 2016 stellte ich erstmals die Idee vor, die Art, wie Instrumente verwendet wurden, mit der Zeitachse und dem Instrumentarium zu verknüpfen und somit die verschiedenen Nutzungskonzepte herauszuarbeiten. Seither habe ich noch einige Verfeinerungen vorgenommen, aber die Grundzüge sind noch immer dieselben.
Die neun Konzepte sind weitgehend chronologisch aufgezählt. Im folgenden erläutere ich einige Eckpunkte des jeweiligen Nutzungskonzepts.
I: alles greifen (vieil ton)
Dieses Konzept entspricht weitgehend der heutigen Gitarre: Die Finger der Greifhand müssen – wenn der gewünschte Ton nicht gerade als leere Saite bzw. leerer Chor zur Verfügung steht – die Töne aller Stimmen greifen.
Zu den Tönen und dem Ambitus der Laute:
Seit ca. 1490 (Pesaro-Manuskript) ist belegt, dass es 7-chörige Lauten mit einem Tonumfang von zwei Oktaven und einer Quarte gab (z.B. g' d' a f c G D). Dieser Tonumfang ergibt 29 Halbtöne.
Die 11-chörige Barocklaute hat genau denselben Ambitus (z.B. f' d' a f d A G F E D C). Somit ist das Märchen entlarvt, wonach ab ca. 1575 der Ambitus des Instrumentes immer mehr erweitert wurde. Dies ist fachlich falsch.
Ob ab ca. 1575 Bass-Saiten zur Verwendung kamen, die das Nutzen des 7. Chores klanglich verbesserten, ist eine offene Frage. Tatsache ist, dass der eine Quarte unter dem 6. Chor stehende 7.Chor immer mehr eingesetzt wurde.
Tatsache ist auch, dass die 7-chörige Laute auch dann noch in Drucken und Handschrift auftaucht, als sich die 10- bzw. 11-chörige Laute bereits durchgesetzt hat: bis mindestens 1630.
II: Bass an Daumen delegieren
Die Entwicklung ging nicht zu einer Ambituserweiterung, indem der 8. Chor wiederum tiefer als der gegenüber dem 6. Chor um eine Quarte tiefer gestimmte 7. Chor eingestimmt worden wäre, sondern der Gesamtumfang blieb (bis auf ganz wenige Ausnahmen) bei den 29 Halbtönen. Der 8. Chor wurde benutzt, um das Greifen auf dem 7. Chor zu minimieren.
Dasselbe geschah bei der Erweiterung auf die 9-chörige Laute: Nun "fehlte" nur noch ein Ton, um die Quarte unterhalb des 6. Chores als diatonische Tonleiter zur Verfügung zu haben.
Mit der 9-chörigen Laute, welches wohl das am meisten unterschätzte Lautentyp darstellt, wurden ganz neue Anforderungen an die Resonanzfähigkeit des Instruments gestellt. Hier würde ich den klangästhetischen Bruch mit der Renaissancelaute ansetzen. Gleichzeitig ist nun klar, dass der Bass zu einem immer gewichtigeren Teil die Aufgabe des Daumens der Zupfhand wurde und immer weniger mit der Greifhand gegriffen werden muss.
Der an den Daumen delegierte Bass bleibt auf den Barocklauten und den Continuo-Lauten Tiorba und Arciliuto mit ihren länderspezifischen Ausgestaltungen die Konstante bis zum Aussterben dieser Typen.
Mace schreibt dazu in seinem Musick's Monument, London 1676, S. 41:
"Thus much I think may be sufficient to gain Belief, that the Lute must needs have had such Impediments, by reason of which, it might well be accounted a Hard Instrument.
The which being taken away, I doubt not but it will appear both Easie, and very Delightfull.
Now I will give you some Reasons, why it is become Easie; and is, by the Increase of Strings; which (although it may seem a Riddle to some) is most True.
And here you must take notice, that when we say a Lute of 12 Strings, there are but 6; and likewise a Lute of 24 Strings, there are but 12, (as to substantial Use.)
For we always Tune and strike two Strings together as one.
So that in the Old Time upon their Lutes of 12 Strings (as to use) they had but 6: Therefore were they constrain'd to extreme hard, cross, and wringin Stops, both above and below upon the Finger-board.
Yea, such stops have I seen, that I do still wonder how a Mans Hand could stretch to perform some of them, and with such swiftnes of Time as has been set down.
Whereas Now, by the Addition of six Ranks of Strings, All those hard, cross-grain'd Stops are undone, and brought to a Natural Form, and Aptitude for the Hand; And are so very Easie, that an Ingenious Child in half an hours time, may readily Form its Hand to the whole Number of Hard Stops, ordinarily in use, and generally Requirable for the necessary scope of Lute-play."
III: Bassregister mit Harmonien: Basso continuo
Die neue Funktion, in einem grösseren Ensemble hörbar Continuo zu spielen, brachte das Auseinandergehen der solistisch bzw. im kleinen Kreis genutzten Instrumente und den für das Continuo genutzte Instrumentarium.
Beim Continuo geht es darum, möglichst viel Klangenergie zu erzeugen und durch Klangschärfe im Ensemble hörbar und wirksam zu sein. Dazu muss die höchst klingende Saite so nahe wie möglich am Reisspunkt des Saitenmaterials eingesetzt werden. Deshalb haben Tiorbe normalerweise eine Mensur im petit jeu (bei den über das Griffbret laufendes Chören) von mindestens 87 cm. Viele heutige "Kopien" orientieren sich an den wenigen Ausnahmen kleinerer (und damals wohl auf anderen Tönen gestimmten) Tiorbe. Zudem ist ein Grossteil der historischen Tiorbe mit Doppelsaiten im petit jeu ausgerüstet und haben Tiorbe und Arciliuti ganz grundsätzlich nur 6 Chöre im petit jeu.
Nimmt man ein gross mensuriertes Instrument und spielt es von der Spielhaltung her wie ein klein mensuriertes Instrument, wird es schnell unangenehm für den Rücken, Schultern und Hände. Schaut man sich alte Bilder an, fällt die Entstanntheit der Spielenden auf, welche durch eine weitgehen symmetrische Haltung der Oberarme ermöglicht wird. Das Instrument wird also so eingemittet, dass die Oberarme in ähnlichem Winkel vom Brustkorb abstehen. Somit ändert sich die Position der Zupfhand radikal: Der Stützfinger ist ganz nahme beim Steg (oder sogar dahinter wie bei vielen Abbildungen von Continuo-Situationen und wie in vielen Texten beschrieben) und die Finger schlagen somit sehr nahe vor dem Steg an und ziemlich rechtwinklig zur Saite.
Die Kombination zwischen Anschlagspunkt (nahe beim Steg), Anschlagsrichtung (ziemlich im 90°-Winkel zu den Saiten) und grösstmöglicher Mensur ergibt die Klangschärfe, von der viele Textzeugnisse sprechen – und die heute meist vermieden wird.
IV: Eigenresonanz und Klangfarben nutzen
Die verschiedenen Stimmungen und das dadurch praktizierte Umstimmen der ersten drei Chöre in der Nutzungszeit der Accords nouveaux, die spätestens 1622 begann und bis etwa 1710 dauerte, erlaubte das Entdecken der Klanglichkeit, wenn die Saiten nicht bis zur Reissgrenze belastet wurden. Somit glit als Faustregel, dass die höchst klingende Saite auf den Soloinstrumente nicht bis an deren physikalische Grenze hochgestimmt wurde, sondern dass nach der besten Klanglichkeit und Eigenresonanz des Instruments gesucht wurde.
In der Zeit der Accords nouveaux wird die Stimmung im Prinzip der zu spielenden Tonart angepasst. Es gibt wenige Stimmungen, in denen für mehr als zwei Tonarten (Dur und entsprechendes Moll) Stücke entstanden sind.
V: NAO – neuer Standard für Sololiteratur
Dies wird ganz anders, nachdem der nouvel accord ordinaire (NAO) durchgesetzt hat: Mit dieser Stimmung werden fast alle damals geläufigen Tonarten gespielt – und die Lautenliteratur, welche ja in Tabulatur notiert war und dadurch freier war als die gewöhnliche Notation, nutzt dies auch zum Gebrauch sehr spezieller Tonarten. Die Bässe werden der jeweiligen Tonart angepasst.
Der NAO erscheint erstmals 1638 in Drucken und wird in Frankreich schnell als einheitliche neue Stimmung akzeptiert. Weshalb schreibe ich, dass diese Stimmung "irreführend d-Moll-Stimmung" genannt werde?
Es muss zwischen verschiedenen Kategorien unterschieden werden:
die Reissgrenze des Saitenmaterials, die in Hz bzw. maximale Mensur bei einer bestimmten Frequenz definiert werden kann
die Stimmtonhöhe, die erheblich variiert (a' = ca. 470 Hz in Venedig, aber ca. 370 Hz in Neapel)
die nominelle Tonhöhenbezeichnung (ein notiertes c' klingt in Venedig um eine Grossterz höher als in Neapel).
Hinzu kommt, dass die Tabulatur nur den Greifort auf dem Griffbrett definiert (und keine Tonhöhe). Daraus folgt, dass dassele Stück auf einem kleinen Instrument gespielt einfach höher klingt als auf einem grösseren Instrument.
Daraus folgt, dass der Begriff "d-Moll-Stimmung" für die Barocklautenstimmung im Grunde genomen eine unsinnige Angabe ist. Radolts Concerti verlangen drei Lautengrössen mit einer jeweiligen Chanterelle, die in f', es' und c' gestimmt sind. Es ist ein modernes Phänomen, dass kaum mehr kleinere und grössere Instrumente verwendet werden.
Das Spielen in einer Stimmung, die selbst einen Akkord darstellt, ermöglicht bei bestimmten Tonarten Satzweisen, welche die Klanglichkeit des Instrumentes auf jeweils besondere Weise nutzen.
VI: bassloses Spiel
Schon seit dem Aufkommen des Gitarrentyps, der heute "Renaissancegitarre" genannt wird (um 1546), wird auf Zupfinstrumenten musiziert, die kein wirkliches Bassregister, sndern nur einen Umfang der leeren Saiten von einer Oktave und einer Quinte oder sogar noch weniger haben. Dieses basslose Spiel wird unterstützt durch die Oktavbesaitung bei den tiefen Chören (sofern vorhanden). Offenbar störten sich die damaligen Musizierenden und Zuhörenden nicht an der Musik, in der keine Zweistimmigkeit mit Bass und Melodie, sondern eher eine Musik mit Melodie und Harmonie und Bass-Andeutungen dargeboten wird. Dies geht gegen unsere heutige Hörgewohnheit.
VII: Melodiespiel auf 1. Chor mit Griffen verbinden
Mit dem basslosen Spiel und der Konzentration auf Melodie und Harmonie stimmt das nächste Konzept überein: Die Melodie wird fast immer auf dem ersten Chor und sehr oft mit dem kleinen Finger gespielt und die anderen Finger greifen die Harmonie dazu. Hier wird der ganze Hals genutzt, was voraussetzt, dass die Saiten in sich ziemlich gut stimmen.
VIII: Linienspiel
Eine ganz andere Nutzungsart ist das einstimmige Linienspiel, das man gewöhnlich nicht mit einem mehrchörigen Zupfinstrument verbindet. Es existieren aber in über 400 Kantaten von Telemann Stimmen für das Bassinstrument, das wir heute Galizona oder Colachon nennen (damals auch Calcedon, Calcedono, Calicedono, Chalcedon, Chalcedono, Callezono, Colachon, Colochon etc.). Diese sind im Bass-Schlüssel notiert. ergo konnte auf diesem Instrument alles gespielt werden, was als Bass-Stimme daherkam.
Ähnliches gilt für die Diskantinstrumente der Lautenfamilie, aus denen sich die Mandolinenfamilie entwickelt hat: Hier fehlen explizit diesen Instrumenten zugeteilte Stimmen, aber sie wurden offenbar für das Spielen von Oberstimmen eingesetzt und brauchten kein explizites Material, weil herkömmliche Noten aureichten.
IX: Zurück zu den Wurzeln – alles greifen!
Dies ist kein neues Nutzungskonzept, sondern das Wiederaufnehmen von Konzept I im 18. Jahrhundert, nun aber mit einer neuen Stimmung, bei der die Terz zwischen dem 2. und 3. Chor liegt (statt wie früher zwischen dem 3. und 4. Chor).
Dieses Konzept habe zu "vereinfachten Lauten" geführt – nämlich zur Mandora.
Diese Aussage ist grundsätzlich falsch: Ein Nutzungskonzept bietet einen Rahmen für die Einsatzart der Greif- und Anschlagshand. Wie einfach oder komplex die Musik ist, welche auf den entsprechenden Instrumenten gemacht wird, ist eine zweite Ebene und hat mit dem Instrumententyp und dem Nutzungskonzept nur indirekt zu tun: Man kann auf der Barocklaute ebenso simple Musik machen wie auf der Mandora.
Mich störte seit jeher, dass die Mandora als "vereinfachte Laute" dargestellt wird. Es gilt, eine Unterscheidung zu machen zwischen dem Instrument samt dessen Nutzung und der Musik, die darauf gespielt wurde. Natürlich existiert viel einfache Gebrauchsmusik für die Mandora – aber das Nutzungskonzept ist genau dasselbe wie dasjenige für die Renaissancelaute. Ist die Renaissancelaute somit eine "vereinfachte Laute"?
Es gibt auch Mischungen von Nutzungskonzepten:
Zistern (dies sind Cister-Instrumente ab ca. 1730, die in einer offenen Stimmung stehen, z.B. g' e' c' g e c) und die um 1800 von Sichra entwickelte 7-saitige russische Gitarre (d' h g d H G D) vereinen zwei Nutzungskonzepte: I und IV.
Im Unterschied zum Nutzungskonzept I nutzen sie aufgrund ihrer offenen Stimmung vermehrt leere Saiten und im Unterschied zu Nutzungskonzept IV stehen keine diatonischen Bässe zur Verfügung.
Mit der Zeitachse kombiniert sieht es so aus:
Zu diesen Nutzungskonzepten tritt eine weitere Überlegung, welche zwischen dem Tonumfang der klingenden Töne und dem vom Saitenmaterial abverlangten Tonumfang unterscheidet.
Mit der Verlängerung der Bass-Saiten weisen Instrumente eine Verhältnis zwischen dem petit jeu (den gegriffenen Saiten, die über das Griffbrett laufen) und dem grand jeu (den verlängerten Bässen) auf, das in mathematischen Proportionen ausgedrückt werden kann.
Als Faustregel gilt:
- Tiorba und Arciliuto weisen in Verhältnis von 1 (petit jeu) zu 2 (grand jeu) auf (Oktave).
Ergo entspricht der Durchmesser des 13. Chores dem Durchmesser des 6. Chores. - Der Liuto attiorbato und die Angélique weisen ein Verhältnis von 2:3 auf (Quinte).
Ergo entspricht der Durchmesser des 10. Chores dem Durchmesser des 6. Chores. - Die Barocklaute mit einem einfachen Schwanenhals weist ein Verhältnis von 3:4 auf (Quarte),
wodurch der Durchmesser des 9. Chores dem Durchmesser des 6. Chores entspricht.
Beim doppelten Schwanenhals mit der Proportion von 5:6 (Kleinterz) entsprechen sich der 9. und der 7. Chor.
Somit beträgt der Ambitus, der dem Saitenmaterial abverlangt wird, bei einer
- Tiorba: 16 Halbtöne (HT)
- Arciliuto: 26 HT
- Liuto attiorbato: 31 HT
- Angélique: 21 HT
- 13-ch Barocklaute mit Schwanenhals: 27 HT
Zum Vergleich: Die 7-chörige Laute im Vieil ton mit dem 7. Chor, der eine Quarte unter dem 6. Chor steht, beträgt 29 HT. Und dieser Ambitus wird dem Saitenmaterial seit ca. 1490 (Pesaro-Manuskript) abverlangt.