Accords nouveaux

François-Pierre Goy & Andreas Schlegel

Zur Bauweise der Gitarren des 16. bis 18. Jahrhundert

Die Gitarrentypen, wie wir sie heute verstehen, zeichnen sich aus durch eine Bauweise mit einer Decke und einem Boden, der flach oder gewölbt sein kann, aber in jedem Fall mit seitlichen Zargen von der Decke getrennt wird. Die Zargen sind in einer mehr oder weniger ausgeprägten Achterform gebogen. Auf die Decke wird der Steg aufgeleimt, der bei Darmbesaitung gleichzeitig als Befestigungsvorrichtung für die Saiten dient.
Die Saiten waren in Chören gruppiert, wobei ein Chor eine Einzelsaite (meist die höchst klingende Saite) oder ein Saitenpaar bzw. gar eine Tripel-Saite bezeichnet – unisono oder im Oktavabstand gestimmt. Bei mit Metallsaiten bezogenen Instrumenten (der Chitarra battente, deren geknickte Decke wohl erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt wurde und der Umbau vieler älterer Instrumente erst nach 1750 erfolgt sein dürfte) werden die Saiten meist an Stiften befestigt, die durch die Zarge in den dahinter liegenden Unterklotz gesteckt werden. Somit wird der Saitenzug nicht dem Steg aufgebürdet, weil dies zu starker Deformation der Decke führen würde, sondern vom gesamten Korpus aufgefangen. Der Steg von Instrumenten mit dieser unterständigen Saitenbefestigung ist meist nur auf der Decke aufgelegt und nicht verleimt.
An den Korpus wird ein Hals angefügt, um den bei der Gitarre doppelte Darmbünde im Halbtonabstand geschlungen werden. Bei Instrumenten mit Metallsaiten (Gitarren und Cistern) wurden in der Regel Metallbünde ins Griffbrett eingelassen, weil Darmbünde viel zu schnell durchgespielt würden. Entsprechend kann man bei Instrumenten mit eingelegten Bünden Rückschlüsse über ungleichstufige Stimmungen und Temperaturen ziehen. Dabei ist aber zu beachten, dass Instrumente mit Darmsaiten viel weniger lange nachklingen als Instrumente mit Metallsaiten. Deshalb erstaunt auch der Befund nicht, dass für Instrumente mit Darmsaiten ab dem frühen 17. Jahrhundert weder eindeutige ikonografische noch textliche Hinweise auf ungleichstufige Bundsetzungen bekannt sind – entgegen der heute verbreiteten Praxis, Bünde zu verschieben.
Am oberen Ende des Halses befindet sich meist eine Platte zur Aufnahme der von hinten eingeführten Steckwirbel, mit denen die Saitenspannung reguliert und dadurch gestimmt werden kann. Mechaniken kommen erst bei der English Guittar (einem Zister-Typ) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf und werden nach 1800 auf die Gitarre übertragen. Auch das Prinzip der Theorbierung wurde vereinzelt auf die Gitarre angewandt.

 

Die Gitarrentypen des 16. Jahrhunderts

Im 16. Jahrhundert war die meist 6-chörige Vihuela in Spanien verbreitet.

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Vihuela, gebaut von Renzo Salvador, Mensur 59,0 cm.

In Frankreich und teilweise in England wurde ein 4-chöriges kleines Gitarreninstrument verwendet, das wir heute ›Renaissancegitarre‹ nennen und das eine schwingende Saitenlänge (Mensur) von ca. 52 cm aufwies und wohl in a1–e1e1–c1c1–g1g gestimmt war.

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Renaissancegitarre nach Holzschnitt von Morlaye, gebaut von György Lörinczi, Mensur 52 cm.

Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts kommt die 5-chörige grössere Ausführung mit Mensuren bis ca. 75 cm und gestimmt in e1–hh–gg–d1d–aA (mit Varianten – siehe unten) in Gebrauch. Sie wird heute Barockgitarre genannt. Die Instrumente der Eroberer kamen auch in die Neue Welt.

 

Die Frühzeit der Gitarre in Italien im 17. Jahrhundert

Die Rückbesinnung auf die Antike und die ›Kythara‹ als Zupfinstrument schlechthin vor 1600 führte dazu, dass die ›Chitarra‹ um 1600 sowohl ein Instrument der Lauten- wie der Gitarrenfamilie sein konnte. Deshalb wurde die Gitarrenform mit ›Chitarra spagnola‹ bezeichnet – erstmals wohl 1596 in der ersten, heute verschollenen Auflage von Joan Carles Amats (1572–1642) Traktat Guitarra española. Dies ist der früheste bekannte Traktat, der für den barocken 5-chörigen Typus verfasst wurde. Gestimmt war die Gitarre nach Amat normalerweise e1–hh–gg–dd1–Aa, wobei nicht klar ist, ab wann die Oktavsaiten auf der Daumen-Seite angebracht wurden (im Gegensatz zu dem Lauteninstrumenten, der Vihuela und wohl der Renaissancegitarre, bei denen die Bass-Saite immer auf der Daumen-Saite und die Oktav-Saite auf der Diskant-Seite montiert wird). Amat spricht nur von Oktavsaiten, nicht aber von deren Platzierung.

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Italienische Barockgitarre nach Sellas, gebaut von Bernd Holzgruber, Mensur 66,0 cm.


In Amats Traktat werden die 12 Dur- und Moll-Akkorde im Quintenzirkel durchnummeriert und mit dem Zusatz ›n‹ für ›naturales‹ (= Dur) bzw. ›b‹ für ›mollando‹ (= Moll) versehen, beginnend bei E-Dur (= 1n) bzw. e-Moll (= 1b), gefolgt von A-Dur (2n) bzw. a-Moll (2b) etc. Dies weist auf eine gleichstufige Bundsetzung hin. Amat betont, dass nur vier Bünde gesetzt werden müssen, weil alle Akkorde innerhalb dieser vier Bünde gegriffen werden können. Verminderte Akkorde und Septakkorde werden nicht beschrieben. Auf das Melodiespiel geht Amat gar nicht ein.
Dies entspricht der Verwendung der Chitarra spagnola in der frühen Generalbass-Zeit: Rund 130 italienische Drucke aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geben die Buchstaben des Alfabeto an (siehe Abbildung unten sowie der separate Abschnitt zur Alfabeto-Notation noch weiter unten), so dass die Chitarra spagnola als Begleitinstrument eingesetzt werden kann. Diese Alfabeto-Notation, die pro Griff ein einziges Zeichen verwendet und somit die Dur-/Moll-Unterscheidung im Gegensatz zu Amat nicht festhält, erscheint 1606 bei Montesardo und erlebt in den 1620er- und 30er-Jahren ihre Blüte.
Es gab auch etwa 65 reine Gitarrenbücher, in denen den Alfabeto-Zeichen Symbole für die Schlagrichtung der Anschlagshand mit rudimentären und somit oft mehrdeutigen metrischen Angaben kombiniert wurden. Solche Publikationen verbreiten also die harmonischen Schemen der populären Improvisationsmodelle, kombiniert mit Anschlagsanweisungen. Diese Büchlein (oft in sehr kleinen Formaten, wohl für die Westentasche gedacht) sind bis ca. 1650 in Mode, wobei das populärste Werk Vero e facil modo d‘imparare a sonare, et accordare da se medesimo la chitarra spagnuola…, 1637 von Pietro Millioni und Lodovico Monte (Lebensdaten von beiden unbekannt) herausgegeben, auf frühere Drucke von Millioni zurückgeht und bis 1737 aufgelegt wurde.
Die Reduktion von harmonischen Modellen, welche bisher mehr oder weniger ausformuliert in herkömmlicher Notation oder Tabulaturen überliefert wurden, hin zu einfachen Griffabfolgen und das damit einhergehende Verständnis dieser Modelle als Akkordabfolgen ist der bedeutsame Beitrag der mit Durchstreichen (Rasgueado) gespielten Gitarre des frühen 17. Jahrhunderts zur Entwicklung hin zur Dur-/Moll-tonalen Harmonik. Nicht zufälligerweise war es ein Gitarrist, der 1716 die Oktavegel formulierte: François Campion (1686–1747).

Valvasensis Alfabeto SW

Als Beispiel eines Drucks, bei dem die Continuo-Stimme für die Barockgitarre in Alfabeto-Notation beigefügt ist, diene Lazaro Valvasensis Terzo giardino [d‘amorosi fiori, cioe Arie a voce sola accoinmodate per cantarsi nel Clavicembalo, Tiorba, Chítarone, overo altro simile istromento con l’alfabeto et intavolatura per la Chitara spagnola], Venedig (Bartolomeo Magni) 1634 ; das Titelblatt beim Unikat fehlt. Der Titel wurde ergänzt nach dem Secondo giardino. Die Buchstaben des Alfabeto werden in italienische Tabulatur umgesetzt dargestellt:
+ = e-Moll
A = G-Dur
B = C-Dur
C = D-Dur
D = a-Moll
E = d-Moll
F = E-Dur
G = F-Dur
H = B-Dur, […]
O = g-Moll (wodurch alle Griffe, die in den ›Scala di Musica per b. quadro / b. Molle‹ vorkommen, aufgelöst sind).
Die bei vielen Venezianischen Drucken vorhandenen ›Skalen‹ für Dur (b. quadro) und Moll (b. Molle) ergeben in Akkorde übersetzt:
Dur: Basston G = G-Dur, A = a-Moll, H = G-Dur, c = C-Dur, d = D-Dur, e = E-Dur, f (nicht fis!) = F-Dur, g = G-Dur, a = a-Moll;
Moll: F = F-Dur, G = g-Moll, A = a-Moll, B = B-Dur, c = C-Dur, d = d-Moll, e = E-Dur, f = F-Dur, g = g-Moll, a = a-Moll, b = B-Dur.

 

Der ›Mixed style‹

Ab 1630 beginnt Giovanni Paolo Foscarini (Lebensdaten unbekannt), die italienische Tabulatur (bei der die räumlich unterste Linie der höchst klingenden Saite entspricht und Zahlen für die Bünde verwendet werden) und die Alfabeto-Notation für solistische Gitarrenmusik zu kombinieren: der ›Mixed style‹ entsteht und wird bis Ende des 17. Jahrhunderts in 35 Drucken verwendet. Danach verschwinden in diesem Stil die Alfabetto-Zeichen ganz und übrig bleibt die herkömmliche Tabulatur-Notation mit in Tabulatur ausgeschriebenen Akkorden, für die zwischen 1663 und 1720 14 Drucke bekannt sind. Ausserhalb Italiens fand die Alfabeto-Notation kaum Verbreitung – trotz des 1626 bei Ballard in Paris in Spanisch gedruckten Lehrwerkes von Luis Briçeño, das wiederum ein eigenes Alfabeto-System vorstellt. Ein weiteres System findet sich 1754 und 1774 in den Drucken von Pablo Minguet e Yroll (Lebensdaten unbekannt).

Bei der französischen Rezeption der Chitarra spagnola werden seit den Airs mit Gitarrenbegleitung in Étienne Mouliniés (1599–1676) dritter Sammlung von Airs de cour von 1629 – ebenfalls bei Ballard gedruckt – die Akkorde herkömmlich in französischer Tabulatur ausgeschrieben. Selbst die Musik von Francesco Corbetta (ca. 1615–1681), die er in Paris publizierte, enthält keine Alfabeto-Symbole – obwohl seine erste Publikation im Rasgueado-Stil gedruckt ist. Mit dem Aufkommen des ›Mixed style‹ zeigt sich das Gitarrenspiel nicht mehr als (durchaus virtuoses) Durchstreichen ganzer Akkorde, sondern als Mischung zwischen Melodiespiel und Akkordnutzung. Damit verbunden stellt sich die Frage nach der Stimmung erneut:

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Französische Barockgitarre. Kopie nach Jacques Bocquay, Paris 1732 (Milano), gebaut von Silvia Zanchi, Bergamo, Mensur 68,0 cm.

Stimmungen

Die übliche Gitarrenstimmung – wir kennen daneben aber über dreissig Skordaturen – kommt in drei Varianten vor, welche sich durch die Oktavzuteilung des 4. und 5. Chores unterscheiden:

a) die konventionelle Stimmung mit ›normal‹ gestimmtem 4. und 5. Chor: e1–hh–gg–dd1–Aa. Diese Stimmung liegt den meisten Büchern in Rasgueado-Stil zugrunde und wird gerne verwendet, wenn die Gitarre „normalen“ Basso continuo spielt.

b) die ›semi re-entrant tuning‹ mit dem hochoktavierten 5. Chor: e1–hh–gg–dd1–aa. Dies ist die Normalstimmung

c) die ›re-entrant tuning‹ mit den beiden hochoktavierten Chören 4 und 5: e1–hh–gg–d1d1–aa

Heute wird oft behauptet, dass der 3. Chor mit einer Oktavsaite ausgestattet gewesen sei. Dies ist in Zeiten von Nylon-Saiten machbar (und so durch ""historische"" Aufnahmen belegt), hingegen vor dem Hintergrund der Ausrichtung der Instrumentengrösse nach dem Reisspunkt des Saitenmaterials, die bis ins 18. Jahrhundert die Norm bei Zupfinstrumenten war, schlicht undenkbar: Die Oktavsaite wäre ja ein g' – also eine kleine Terz höher als die Saite, auf die sich der Reisspunkt und somit die Mensur bezieht. Man lese zudem die Beiträge von Lex Eisenhardt und Monica Hall (siehe Literatur), die nahelegen, dass es sich um eine Fehldeutung von zwei Traktaten handelt.

Nicht jedes Gitarrenbuch beinhaltet Stimmungsangaben. Und in vielen Quellen sind die Stimmungsangaben mehrdeutig.
Weshalb ist diese Stimmungs-Frage so wichtig?
Unabhängig von der verwendeten Stimmung gibt es in Musik für Barockgitarre Erscheinungen, welche für heutige Ohren inakzeptabel klingen, im 17. Jahrhundert aber nirgends verurteilt wurden:

  1. Werden alle Saiten angeschlagen, können Akkorde entstehen, bei denen die Quinte des Akkordes der tiefste Ton ist, wodurch ein Quartsextakkord entsteht, der meist nicht als Vorhalt, sondern als selbständiger Akkord erklingt.
  2. Oktavsaiten können Oktavverdoppelungen der melodischen Linie verursachen. Speziell hörbar ist dies, wenn Tonleitern mit der Campanela-Technik über mehrere Chöre hinweg gespielt werden. (Mehr zu dieser Technik weiter unten.)
  3. Barockgitarrenliteratur beinhaltet manchmal in Melodielinien Sept- bzw. Non-Sprünge – unabhängig von der verwendeten Stimmung. Im folgenden Beispiel aus einer Pavanas von Gaspar Sanz in italienischer Tabulatur, bei der die räumlich unterste Linie dem höchst klingenden Chor entspricht und Zahlen die Bünde bezeichnen, wird dies veranschaulicht:
    Es gibt keine Stimmung, in der alle Sept- bzw. Non-Sprünge (welche mit dem Stern bzw. der 7 markiert sind) vermieden werden können. Aber es gibt nur eine beste Lösung: Stimmung c).
    Dieses Beispiel zeigt zudem die Campanela-Technik, bei der die Töne einer Tonleiter nicht auf einer, sondern auf mehreren Saiten gespielt werden. Dabei schlägt der Daumen nach Möglichkeit auf der stärkeren Taktzeit an. Diese Technik liegt auf Instrumenten mit ›re-entrant tunings‹ und Stimmungen, die vorwiegend Terzabstände aufweisen, auf der Hand: Wir finden sie in Gitarren-, Theorben-, Cister- und Barocklautenmusik.

Sanz Pavanas

Robert de Visée (nachgewiesen 1680 bis 1736) schreibt 1682 im Vorwort zu seinem Livre de guittarre: ›Ich bitte diejenigen, die der Komposition kundig sind, aber die Gitarre nicht kennen, nicht zu sehr daran Anstoß zu nehmen, dass ich mich manchmal von den Kompositionsregeln entferne: Das Instrument verlangt es so.‹
(Robert de Visée, Livre de guittarre, Paris 1682, S. 4: ›Je prie ceux qui scaurons bien la composition, et qui ne connaistreront pas la Guittare, de n‘estre point scandalizez, s‘ils trouuent que ie m‘escarte quelque fois des regles, c‘est l‘Instrument qui le veut.‹)

 

Die Gitarre im 18. Jahrhundert

Wie bereits oben erwähnt wurde ab Mitte des 18. Jahrhunderts das Abknicken der Decke in Verbindung mit Metallbesaitung eingeführt – zuerst bei Mandolinentypen, kurz danach bei Gitarren. Dieser Gitarren-Typus mit Metallbesaitung, geknickter Decke und aufgesetztem Steg wird Chitarra battente genannt. Viele ältere Gitarren wurden umgebaut. Dieser Umbau ist nach bisherigem Wissen nie mittels Reparaturzettel dokumentiert, so dass die so umgebauten Instrumente entweder gänzlich anonym sind oder nur die Etikette des ursprünglichen Erbauers tragen und somit bis vor kurzem der Schluss gezogen wurde, dass diese Instrumente original mit der geknickten Decke ausgerüstet waren. Somit wurde das Verfahren des Knickens und der Typus der Chitarra battente viel zu früh datiert. Inzwischen sind viele Kriterien bekannt, anhand derer ein Umbau nachgewiesen werden kann und bisher ist keine Gitarre mit einer vor ca. 1750 geknickten geknickter Decke bekannt. Im Gegenteil: Bei jeder eingehenden Untersuchung mit dem heutigem Kenntnisstand konnten die Spuren des nachträglichen Umbaus identifiziert werden. Es wird aber noch einige Zeit dauern, bis sich diese neue Erkenntnis etabliert hat.
Ein "Normtyp" ist die 14-saitige Chitarra battente mit folgender Saitendisposition:
1. Chor e' e'
2. Chor h h h
3. Chor g g g
4. Chor d' d' d
5. Chor a a A
Ob der 4. und 5. Chor mit einer Bass-Saite oder ausschliesslich hochoktaviert ausgerüstet war, ist aus Quellen für die Zeit von ca. 1750 bis 1830 bisher nicht abschliessend geklärt.

Die Chitarra battente ist noch heute ein in Italien verwendetes Volksmusik-Instrument. Während sie heute vornehmlich in Süditalien gespielt wird, war sie früher bis nach Norditalien verbreitet.

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Chitarra battente. Nachbau einer anonymen Gitarre (Leipzig, Grassi Museum für Musikinstrumente, Inv.-Nr. 547), gebaut von Martin Hurttig, Leipzig 2021, Mensur 60,0 cm.

 

Die 5-chörige Gitarre mit der Stimmung b) (›semi re-entrant tuning‹) wurde bis über die Jahrhunderthälfte benutzt. Allmählich wurde aber das Spielen der Basslinie wichtiger, so dass die Stimmung zu e1–hh–gg–d1d–aA umgeformt wurde (mit den Bässen auf der Daumen-Seite) und sich somit die Möglichkeit eröffnete, Einzelsaiten zu verwenden: e1-h-g-d-A.

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Anonyme Gitarre aus dem Lambert-Umkreis, ca. 1780, restauriert von Wolfgang Früh, Mensur 64,7 cm.

Diese Entwicklung zur 5-saitigen Gitarre sowie das Einkürzen von Barockgitarren mit Mensuren über 64 cm auf eben diese 64 cm oder kleiner scheint durch das Aufkommen einer neuen Klangästhetik gefordert worden zu sein:
Ab ca. 1730 wurden Mandoren – ein Lautentyp, der in e1 gestimmt war und dessen Stimmung derjenigen der Gitarre entsprach, hingegen normalerweise 6 Chöre umfasste – entweder an der Reissgrenze oder aber weit davon entfernt mit Mensuren um 60-63 cm gebaut. Diese Mensuren liegen weit unter der Reissgrenze des Saitenmaterials, so dass wesentlich dickere Saiten als Chanterelle verwendet werden konnten. Dies wiederum führt zu einem viel grundtönigeren Klang. Gleichzeitig (ab ca. 1730) scheinen die mit Metalldraht umsponnenen Seiden-Saiten ihren Siegeszug angetreten zu haben.

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7-chörige Mandora ANDREAS FERDINAND MAYR, Salzburg, 1774 (?), restauriert von Bob Van de Kerckhove, Mensur 60,2 cm.


Die Mandora mit ihrer Besaitung mit Oktavsaiten erlaubte einen Umfang von 2 Oktaven und einer Quarte (bei gleicher Mensur). Die kurz vor 1780 entstandene Lyre-guitare mit Mensuren von ca. 58-61 cm war das erste 6-saitige Instrument in der Stimmung e1-h-g-d-A-E, der heutigen Gitarrenstimmung. Offenbar erlaubten die neuen umsponnenen Saiten diesen Umfang, auch wenn die Chanterelle nun im Durchmesser wesentlich dicker war und dem Durchmesser des ehemaligen 2. Chors entsprochen haben dürfte.

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Lyre-guitare von Blaisot, Paris ca. 1805, restauriert von Erik Hofmann, Mensur 57,2 cm.


Um 1760 führte Giacomo Merchi in seinem Opus 3 für Gitarre die herkömmlichen Notation ein an Stelle der Tabulatur – auch wenn noch jahrzehntelang beide Notationsformen nebeneinander existierten. In französischer Gitarren- bzw. Mandora-Literatur ab den 1770er-Jahren, die in herkömmlicher Notation publiziert wurde, finden sich viele Stellen mit kleiner gestochenen Bässen für die Mandora und normal grossen Noten für die 5-saitige (oder 5-chörige) Gitarre. Hier eine Beispiel aus J.S. Felix: Recueil d’airs et ariettes choisies avec accompagnement de guitarre ou mandore […] oeuvre 2.e., Paris ca. 1770, S. 19. Digitalisat: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b90789744 (17.10.2019):

Felix_Mandore_Guitare

Die Abkehr von der Tabulatur wurde durch das gleichzeitige Vorhandensein verschiedenster Zupfinstrumente aus der Lauten-, Gitarren- und Zisterfamilie mit verschiedenen Stimmungen befördert: Die Tabulatur hätte sich auf eine spezifische Stimmung und somit auf einen bestimmten Instrumententyp bezogen, während mit herkömmlicher Notation die Adaption an das gerade gespielte Instrument dem Musiker überlassen wurde.
Das 6-saitige Konzept der Lyre-guitare wurde dann später auf die Gitarre übernommen.

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6-saitige Gitarre von Hypollite Collin, Paris 1811, restauriert von Silvia Zanchi, Bergamo, Mensur 64,8 cm.

Wann und wo die ersten 6-saitigen Gitarren gebaut wurden, ist strittig: 5-saitige bzw. 5-chörige Instrumente wurden zu 6-saitigen Instrumenten umgebaut – und diese Umbauten lassen sich oftmals nicht genau datieren bzw. es ist oft nicht klar, ob der heutige 6-saitige Zustand original ist oder erst durch einen Umbau erreicht wurde. Die 6-saitige Gitarre wurde um 1800 oft als "Chitarra francese" bezeichnet. Hingegen sind besonders aus Neapel einige 6-saitige Gitarren bekannt, die schon vor der Jahrhundertwende als 6-saitige Instrumente gebaut worden sein dürften (z.B. ein Instrument mit der Etikette "Joseph. Filano Donati filius fecit Neap. || Alla Rua di S. Chiara Anno 17 [ms.] 93"). Sicher ist, dass Paris früh zum Zentrum der 6-saitigen Gitarre aufstieg, bevor dieser Typ im deutschsprachigen und englischen Gebiet etabliert wurde.

 

Das Alfabeto – eine Einführung

Wenn wir aus heutiger Warte auf alte musikalische Notationssysteme wie das Alfabeto schauen, müssen wir uns zuerst über die Selbstverständlichkeiten unserer heutigen Notation klar werden.

Heute ist klar, dass die Frequenz von 440 Hz dem a1 zugeordnet ist und dass die Instrumente im Prinzip alle auf 440 Hz gestimmt sind (Orchesterinstrumente eventuell wenige Hertz höher).

Diese Vereinheitlichung des Stimmtons wurde erst 1939 als Standard ISO 19 an der letzten internationalen Stimmtonkonferenz in London beschlossen. Vorher galten unterschiedliche Stimmtonhöhen: Einerseits regional, wozu Giovanni Battista Doni zitiert werden darf, der 1640 schrieb, dass der Stimmton in Italien von Region zu Region um je einen Halbton sinke, nämlich von Venedig (mit a1 = 460–470 Hz) über die Lombardei (a1 = 440 Hz) in die Toscana (a1 = 415 Hz), nach Rom (a1 = 392 Hz) und Neapel (a1 = 370 Hz). Andererseits wurde selbst innerhalb derselben Stadt Stimmtöne von den jeweiligen Orgeln abgeleitet – und wenn es mehrere Orgeln gab, standen diese selten auf demselben Stimmton. Von einem solchen Orgel-Stimmton wurde dann wiederum durch Transpositionen in einen hohen Chorton und einen (meist um einen Ganzton) tieferen Kammerton unterteilt.

Denkt man in den Kategorien der früheren Zeiten, ist die Priorität für die Setzung des Stimmtons bei Saiteninstrumenten ganz anders gesetzt:

  • Physik (z.B. die Reissgrenze von Saitenmaterial)
  • Klangästhetik (z.B. Anpassung an Eigenresonanzen des Klangkörpers; Schärfe oder Klangfarbigkeit als Kriterium bei Continuo- bzw. Solo-Instrumenten)

Die physikalischen Grenzen bei Saiteninstrumenten werden weitgehend durch das Saitenmaterial und / oder Herstellungstechniken gesetzt. Pragmatisch gesagt reissen blanke Darmsaiten bei einer Mensur von einem Meter bei 250 Hz – und dies unabhängig vom Durchmesser. Je dicker die Saite ist, desto mehr Saitenzug braucht es, um diese Frequenz zu erreichen. Die grundlegenden physikalische Gesetze wurden von Marin Mersenne 1636 in seiner Harmonie universelle beschrieben und sind als "Mersennsche Gesetze" bekannt. In Praxis liegt der Arbeitsbereich der höchst klingenden Saite einen Halb- bis Ganzton unter der Reissgrenze.

Somit ergibt damals die Mensur der am höchsten klingenden Saite die maximal erreichbare Frequenz, die Klangästhetik bestimmt den Arbeitsbereich oder anders gesagt die effektive Frequenz dieser Saite – und eben nicht ein Stimmton.

Spielt man mit anderen Instrumenten zusammen, passt man den Stimmton demjenigen Instrument an, das am wenigsten flexibel ist.

Heute wird die Gitarre normalerweise auf ein e1 in Stimmtonhöhe a1 = 440 Hz mit 65 cm Mensur gebaut. Diese Mensur liegt sehr weit ausserhalb der Reissgrenze von Darm, die bei 75,8 cm liegen würde – bzw. bei 71,5 mit einem Halbton Abstand zur Reissgrenze. Und nimmt man Fluorcarbon oder Nylon, könnte die Mensur noch grösser sein (bis 77 cm), weil der Reisspunkt bei diesen Materialien bei 270 Hz / m bzw. 262 Hz / m liegt.

Somit wird für diese älteren Zeiten klar, dass die Grösse des Instrumentes und die Klangästhetik über die effektive Frequenz entscheiden. Und Zupfinstrumente wurden in verschiedenen Grössen gebaut. Die Tabulatur als Notationskonzept bezeichnet nun eben nicht Frequenzen (wie die heutige Notation) oder Notennamen (wie zu Zeiten unterschiedlicher Stimmtöne), sondern Greifpositionen auf dem Griffbrett bzw. leere Saiten. Somit klingt dasselbe Stück, das auf einem grösseren Instrument gespielt wird, automatisch tiefer und auf einem kleineren Instrument entsprechend höher. Die Greifpositionen ändern sich ja nicht – nur die Frequenz ist je nach Instrumentengrösse tiefer bzw. höher.

Dieses Tabulatur-Prinzip wird nun logischerweise auch auf Griffe für die Barockgitarre angewendet: Beim Alfabeto werden Griffbilder mit Erkennungsbuchstaben bzw. -zeichen versehen – unabhängig von erklingenden Resultat in Hertz bzw. Notennamen.

Dies wird aus einem weiteren Grund noch verständlicher: Begriffe wie "e-Moll" oder "C-Dur" gab es um 1600 noch gar nicht. Diese Art der Akkordbezeichnungen wurde erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts langsam ausgebildet – als das Alfabeto bis auf wenige Ausnahmen wieder verschwunden war.

Wenn wir als heutige Gitarrenspieler also unreflektiert auf die Alfabeto-Notation schauen, gehen wir von drei damals nicht vorhandenen Voraussetzungen aus:

  • vereinheitlichter Stimmton: Die Gitarre steht in e' – selbstverständlich in a1 = 440 Hz.
  • Saiten kann man fast beliebig hochziehen: Die Erfahrung der Reissgrenze ist schlicht nicht mehr präsent.
  • Akkordbezeichnungen gab es damals schon.

Denken wir im Kontext der damaligen Zeit, ist das Alfabeto völlig logisch: Da Instrumente verschieden gross waren und der Stimmton je nach Region und musikalischen Kontext (Chor- bzw. Kammerton für kirchliche bzw. weltliche Musik) unterschiedlich hoch war, wurde das Tabulaturprinzip mit der Darstellung des Griffbildes verwendet und den Griffbildern ein Erkennungsbuchstabe zugewiesen.

Mit dem Einbezug der bisher schriftlosen Volksmusik in die schriftlich festgehaltene Kunstmusik um 1600 gelangte auch das akkordische Begleiten auf der 5-chörigen Gitarre – wofür das Alfabeto die Aufzeichnungsart der Wahl war – in die Schrift.

Weil das Griffbild und nicht die Tonhöhe notiert ist, handelt es sich um eine relative Notation: Die Grösse des Instruments bestimmt die Frequenzen der gegriffenen Töne und der lokale Stimmton die nominelle Tonhöhenbezeichnung: Die schwingende Saitenlänge von 76 cm ergibt mit Darmsaiten eine erreichbare Frequenz von 311 Hz, wenn die Saite knapp unter ihrem Reisspunkt eingestimmt wird. Dieser Frequenz entspricht bei einem modernen Stimmton von a1=440 Hz ein es1. Liegt der Stimmton bei 415 Hz (ein Halbton tiefer), ergibt die gleiche Frequenz ein e1.

Wird dasselbe Stück ab Alfabeto auf einer kleineren Gitarre gespielt, klingt es also höher als wenn es auf einem grösseren Instrument gespielt wird. Dies meint der Begriff der „relativen Notation“. Bezeichnenderweise gibt es einen Alfabeto-Druck aus dem Jahre 1627, in welchem Quartette für vier unterschiedlich gestimmte Gitarren enthalten sind. Die höchsten Saiten der Instrumente sind nominell in a1 (Soprano), fis1 (Contralto), e1(Tenor) und d1 (Basso) gestimmt.

Bei der folgenden Darstellung ordne ich trotzdem einfachheitshalber die Griffbilder einer Gitarre zu, deren höchste Saite in e1 gestimmt ist (wie die heutige Gitarre; in der italienischen Tabulatur ist die höchste klingende Saite räumlich unten notiert). Das relative Denken muss aber als Grundbedingung im Auge behalten werden.

Wahrscheinlich führte Juan Carlos Amat 1596 eine Art Alfabeto ein. Leider ist dieser Druck nicht erhalten. Der früheste erhaltene Druck, der Alfabeto enthält, wurde 1606 von Girolamo Montesardo in Florenz veröffentlicht. Sein Alfabeto umfasst 27 Griffbilder und enthält alle damals in Italien üblichen Buchstaben (also kein J, U und W) sowie als Sonderzeichen +, &, Con (sieht ähnlich aus wie 9) und Ron (ein R mit einem Strich durch den Abstrich nach rechts, so dass dieser Buchstabenteil wie ein x aussieht).

Alfabeto Con Ron

Von der Anlage her ist dies ein geschlossenes System. Weitere Griffe rufen nach neuen Zeichen – und diese Entwicklung findet sich ab dem zweiten erhaltenen Druck mit ausschliesslicher Alfabeto-Notation von 1620 (Colonna). Quellen mit Alfabeto zur Liedbegleitung gibt es bis dahin mindestens 10.

Nun gibt es in der zeitgenössischen Musiktheorie kein Denken in Akkorden und somit auch keine tonartliche Systematik. Entsprechend enthält Montesardos Alfabeto keinen Aufbau, der uns mit unserem heutigen harmonischen Denken logisch erscheint.

Das Alfabeto beginnt bei ihm mit dem Zeichen + und geht danach das Alphabet durch.
Zuerst kommen bis und mit dem Buchstaben F Griffe vor, die ohne Barré gespielt werden können.
G ist dann der an den 1. Bund verschobene E-Dur-Griff (klingend also F-Dur) und H der an den 1. Bund verschobene A-Dur-Griff (klingend B-Dur), bevor beim Buchstabe I der A-Dur-Griff selbst kommt (ohne Barré). Der g-Moll-Griff ist Buchstabe O. Somit sind also ab Buchstabe G alles Barré-Griffe (mit Ausnahme von I und O).
Ab Buchstabe Q sind die Griffe an den 2. bzw. 3. Bund geschoben – auch hier wieder nicht systematisch, sondern gemischt. Die Letter & ist der an den 1. Bund verschobene C-Dur-Griff (klingend Des) und somit die störende Ausnahme.

Nun kann ein Barré-Griff natürlich über den 2. bzw. 3. Bund verschoben werden. Deshalb notiert Giovanni Colonna bereits 1620 solche verschobenen Griffe als Alfabeto-Zeichen, aber ergänzt mit der Anzahl Bünde, um die der Griff verschoben wird.
Der ohne Barré gegriffene D-Dur-Griff heisst C, der an den 1. Bund verschobene D-Dur-Griff heisst M.
Der an den 2. Bund verschobene D-Dur-Griff heisst eigentlich S, nun aber auch M2; am 3. Bund eigentlich Ron, nun aber auch M3.
Normalerweise wird also ein am 1. Bund verschobener Griff als Ausgangspunkt gewählt. Wird der verschobene Griff aber original am 2. Bund gegriffen (z.B. R = 24442), kann R2 „Barré am nächst höheren Bund“, also 35553, R3 46664 etc. bedeuten – je nach Quelle könnte aber auch die Position des Barrés angezeigt werden. 

Verschoben werden die Griffe E-, A-, D-, G- und C-Dur sowie e-, a-, d-, g- und c-Moll.

Durch die Reduktion auf die 10 verschiebbaren Griffe wird das System geöffnet. Pietro Millioni lässt 1627 die Buchstaben ab Q weg. Die meisten Autoren belassen aber einen Grossteil des ursprünglichen Alfabetos und benutzen gleichzeitig auch die kombinierte Darstellung, so dass z.B. die Zeichen G3 und Y verwendet werden (siehe Beispiel: G3=Y, M3=Ron). Somit kann im Zeitrahmen von ca. 1632 bis ca. 1661 derselbe Griff mehrere Griffbezeichnungen tragen – es gibt Mehrfachbezeichnungen für dasselbe Griffbild (siehe Tabelle unten).

Am meisten Mehrfachbezeichnungen weist der 1637 in Mailand gedruckte Trattenimento virtuoso von Giovanni Sfondrino auf, nämlich zehn:
E2=Con,
G2=Q,
G3=Y,
H2=R,
H3=Z,
K2=X,
M2=S,
M3=Ron,
N2=T,
P2=V.

Alfabeto Colonna

Durch das oft gemachte Weglassen der Alfabetozeichen Q bis Ron wurden diese Zeichen „frei“ und wir finden in vielen Büchern ab 1631 Umdeutungen der Buchstaben S, T, Y, Z, &, Con und Ron zu anderen Griffen als im ursprünglichen Alfabeto. Und von diesen umgedeuteten Buchstaben können wiederum Verschiebungen auftauchen.

Besonders interessant ist der Griff L aus dem ursprünglichen Alfabeto, der in Tabulaturbuchstaben ausgedrückt 33013 lautet. Die Zahlen entsprechen den Bünden der höchsten bis tiefsten Chöre, hier ergäbe dies bei angenommener Stimmung e’ h g d A die Töne g’ d’ g es c. Die grosse None c-d’ klingt natürlich nicht immer gut. Man findet vereinzelt auch die Tabulaturzeichen für 34013, wodurch das d’ zu eiem es’ wird. Dies ist aber auf grösseren Instrumenten nicht so einfach zu greifen. Hat man das d’ notiert, aber durch geschicktes loses Auflegen des Fingers nur gedämpft statt den falschen Ton klingen zu lassen?

Als zusätzliche Erweiterung werden ab 1623 ungewöhnliche Griffe mit Dissonanzen (z.B. Nonen) oder mit speziellen Griffen in höheren Lagen ebenfalls notiert und mit zusammengesetzten Sonderzeichen versehen. Bisher habe ich 53 Zeichen ausserhalb des ursprünglichen Alfabeto gefunden, wobei ich kleine Varianten wie Klein- statt Grossschreibung nicht separat gezählt habe. Weil für viele Griffe mehrere unterschiedliche Zeichen verwendet wurden, existieren also mehr Zeichen als vorkommende Griffe.

Somit wird deutlich, dass eine Vielzahl von Zeichen und Bezeichnungssystemen existierte und folglich enthalten die Gitarrendrucke normalerweise eine Tabelle der im Buch verwendeten Zeichen. In Kapsbergers erstem Buch der Villanellen von 1610 in Kupferstich, das für 1-3 Stimmen, Theorbe (mit in Tabulatur ausgeschriebenem Continuo) und Gitarre konzipiert ist, wird die Kenntnis des Alfabeto vorausgesetzt; im zweiten Buch in Typendruck ist eine Tabelle nachgetragen – hingegen mit vielen Abweichungen gegenüber dem Alfabeto Montesardos: Es fehlt +; B ist die Variante 31023 statt 01023; L [c-Moll] ist 34553 statt 33013 / 34013 [siehe oben]; S ist 22244 statt 45422 und somit ein anderer Griff; T 23442 statt 52224; V 52224 statt 22244; X 00022, was + entspricht, statt 23442; Y 45422 statt 33455 und Z 56533 statt 35553. Dies zeigt deutlich auf, wie sehr das Alfabeto im Fluss war.

Hier sollen zwei Tabellen die Alfabeto-Systematik aufzeigen, wobei bei der Umdeutung des Griff-Typs in moderne Akkord-Bezeichnungen ein Instrument in e' angenommen wird.

Die erste Tabelle ist nach dem Quintenzirkel (mit direkt hinzugesetzten Moll-Parallelen) aufgebaut:

Alfabeto-Systematik V = Griffvariante kursiv = potenzielle Mehrfachbezeichnung
                     
Griff-Typ in e' gedacht hoch - tief leer 0 V. I II II V. III III V. IV V
E 00122 F   G Q   Y g    
A 02220 I   H R   Z h Et  
D 23200 C C5 M S   Ron m   b'
G 33002 A   N T     n    
Em 00022 + / B9 P V     p    
C 01023 B Bt &            
Am 01220 D   K X     k    
Dm 13200 E   M+ Con          
Gm 33001 O                
Cm 33013 [!] / 34013 L           l    

Die zweite Tabelle ist nach den Griffbezeichnungen geordnet, wobei diejenigen Barré-Griffe, welche im Alphabet vor den letzten Griffen ohne Barré aufgeführt sind, fett dargestellt werden:

Griff-Typ in e' gedacht hoch - tief leer I V. I II II V. III III V. IV V
Em 00022 + / B9 P V     p    
G 33002 A   N T     n    
C 01023 B Bt &            
D 23200 C C5 M S   Ron m   b'
Am 01220 D   K X     k    
Dm 13200 E   M+ Con          
E 00122 F   G Q   Y g    
                     
A 02220 I   H R   Z h Et  
                     
Cm 33013 [!] / 34013 L           l    
                     
Gm 33001 O                

Die angesprochene Mehrfachbezeichnungen für dasselbe Griffbild in zwei Darstellungen:

Mehrfachbezeichnungen        
             
Griff-Typ Bd. Alf. Bd. Symbol   Symbol Alf. Bd. Griff-Typ Bd.
Dm I E1 M+   M+ E1 Dm I
Dm II E2 Con   Q G2 E II
        R H2 A II
E II G2 Q   S M2 D II
E III G3 Y   T N2 G II
        V P2 Em II
A II H2 R   X K2 Am II
A III H3 Z   Y G3 E III
        Z H3 A III
Am II K2 X   Con E2 Dm II
        Ron M3 D III
D II M2 S        
D III M3 Ron        
             
G II N2 T        
             
Em II P2 V        

Ein weiterer Aspekt ist derjenige der Stimmung / Temperierung der Bundsetzung. Moderne Lautenisten tendieren dazu, mitteltönige Bundsetzung auch auf der Barockgitarre anzuwenden. Dem steht die in den Alfabeto-Drucken aufgezeichnete Praxis gegenüber: Bereits in Montesardos Druck von 1606 werden 11 Dur-Tonarten und 8 Moll-Tonarten verwendet. Alle 12 Dur-Tonarten werden 1620 von Colonna benutzt (und 9 Moll-Tonarten). Millioni publiziert 1635 Stücke in allen 12 Dur- und Moll-Tonarten. Somit ist klar, dass nur eine gleichstufige Bundsetzung (wohl nach der 18er-Teilung) diese Anforderungen erfüllen kann – seit 1606.

Der bisherigen Auswertung lagen die Angaben von Gary Boye zu den 53 auf seiner Homepage zu des Rasgueado-Quellen beschriebenen Drucken zugrunde: http://applications.library.appstate.edu/music/guitar/strummed.html

Meine Erfassung ist hier herunterzuladen.

Es wird eine langfristige Aufgabe sein, all die weiteren Quellen mit Alfabeto-Notation entsprechend zu erfassen. Ich habe in meiner Datenbank immerhin 181 Drucke von 1594 (leider verschollen) bis 1780 mit Alfabeto-Notation verzeichnet, wobei ein Grossteil das Alfabeto als Notation für die Begleitung von Liedern verwendet.

Es ist offensichtlich, dass das akkordische Denken aus der wohl bereits länger bestehenden Praxis um 1600 in die Schrift gelangte. Die Musiktheorie reflektierte diese Praxis, in welcher rein akkordisch (auch ungeachtet der Akkordstellung) und nicht von der Basslinie her gedacht wurde, erst mit Rameaus 1722 formulierter Idee des „basse fondamentale“. Um 1710 gelangten die heutige gültigen Akkordbezeichnungen (a-Moll, B-Dur etc.) in den deutschen Sprachraum (z.B. bei Mattheson, der sich auf italienische Musiker bezieht) und bis Ende des 18. Jahrhundert waren sie etabliert.

Literatur

• J.C. Amat, Guitarra española, s.l. (alle Auflagen in Katalaonien und Spanien erschienen) 1596 [verschollen], weitere Auflagen 1626, 1627, überarbeitet 1639, 1640, 1671, 1674; mit zusätzlichem Tractat breu versehen: s.d. [1703–13], s.d. [1735–1787], 1745, 1758, 1761, 1768, 1780; Faks., hrsg. von Monica Hall, Monaco 1980
• G. Montesardo, Nuova inventione d‘intavolatura, per sonare li balletti sopra la chitarra spagniuola, Firenze 1606
• G. Boye, Bibliographie zu Quellen im Rasgueado-Stil mit solistischer Literatur: http://applications.library.appstate.edu/music/guitar/strummed.html (abgefragt 30.1.2018)
• G. Boye, Bibliographie zu Quellen im ›Mixed Style‹: http://applications.library.appstate.edu/music/guitar/mixed.html (abgefragt 30.1.2018)
• M. Praetorius, Syntagma Musicum. Tomus Secundus De Organographia, Wolfenbüttel 1619; Faks., hrsg. von W. Gurlitt, Kassel etc. 1958
• M. Mersenne, Harmonie Universelle. Livre Troisiesme des Instruments à chordes, Paris 1636/37; Faks., Genf 1973
• F. Campion, Traité d’accompagnement et de composition, selon la règle des octaves de musique, Paris 1716; Faks., Genf 1976
• L. Briceño, Metodo mui facilissimo para aprender a tañer la guitarra a lo Español., Paris 1626; Faks., Genf 1972
• G. Sanz, Instrucción de música sobre la guitarra española, Zaragoza I: 1674, II: 1675, III: s.d.; Faks. (Bücher I–III), Genf 1976
• P. Minguet e Yroll, Reglas y advertencias generales que enseñan el modo de tañer todos los instrumentos mejores, y mas usuales, como son la guitarra, tiple, vandola, cythara, clavicordio, organo, harpa, psalterio, bandurria, violin, flauta traversera, flauta dulce, y la flautilla, Madrid 1754; Faks., Genf 1981
• R. de Visée, Livre de guittarre, Paris 1682 & Livre de pièces pour la guittarre, Paris 1686; Faks., Genf 1973
• J. Tyler / P. Sparks, The Guitar and its Music from the Renaissance to the Classical Era, Oxford 2002
• M. Lustig (Hg.), Gitarre und Zister. Bauweise, Spieltechnik und Geschichte bis 1800 (22. Musikinstrumentenbau-Symposium Michaelstein, 16. bis 18. November 2001), Dößel 2004
• J. Tyler, A Guide to Playing the Baroque Guitar, Bloomington & Indianapolis 2011
• L. Eisenhardt, Italian Guitar Music of the Seventeenth Century: Battuto and Pizzicato, Rochester 2015
• M. Hall, Baroque Guitar Research, https://monicahall.co.uk (abgefragt 30.1.2018)
• L. Eisenhardt, http://lexeisenhardt.com (abgefragt 30.1.2018)
• G. Rebours, http://g.rebours.free.fr (abgefragt 30.1.2018)