Accords nouveaux

François-Pierre Goy & Andreas Schlegel

Die Lyra viol war in der Zeit von ca. 1600 bis nach 1700 eine englische Variante der Baßgambe, die mit wechselnden Stimmungen akkordisch gespielt wurde. Man sprach den Terminus "li:rǝ" aus, zu ersehen aus zeitgenössischen Schreibweisen wie "leera", "lero", "liera", und nicht etwa – wie heute zuweilen in englischsprachigen Ländern – "lairǝ". Diese Aussprache, die auch für damalige Bedingungen vom Normalen abweichend war, deutet auf ausländische, wahrscheinlich italienische Herkunft. In der italienischen Renaissance glaubte man, die antike Lyra sei ein Streichinstrument gewesen, und dieser Irrtum klärte sich erst kurz vor 1600 auf und wurde auch bald in England bekannt. So vermerkt der englische Verleger John Playford um die Mitte des 17. Jh., daß "lyra" eigentlich eine Harfe bedeute. Dennoch blieb es bei dem Namen, denn mittlerweile hatte sich der Terminus verselbständigt und wurde in der Poetik allgemein für "lyrische Muse" verwendet, und wir finden zuweilen Wortspiele über diese spezifische "lyrische" Gambe.

In Italien ist eine Lyra viol allerdings nicht nachweisbar, und mit geringen Ausnahmen (z.B. einem Beispiel bei Silvestro Ganassi, 1543) hatten die Italiener an einer Akkord-Gambe kein Interesse. Die Stellung des akkordischen Streichinstrumentes nahm bei ihnen die Lira da gamba ein, für die man allerdings keine eigenständige Literatur entwickelte, sondern die in scheinbarer Imitation antiker Praxis vornehmlich als Generalbaßinstrument für die Gesangsbegleitung gedacht war.

In England hingegen entwickelte sich ein selbständiger Instrumentalstil, der nicht auf Improvisation, sondern auf ausgeklügelter Komposition beruht, und der von der Griffweise der linken Hand her der Laute verpflichtet war. Wie es jedoch dazu kommen konnte, liegt im Dunkeln. Das Instrument erscheint mit einer hochentwickelten Spieltechnik ohne nachweisbaren entwicklungsgeschichtlichen Vorlauf in Kreisen des englischen Hofes. Das deutet auf eine bewußte Konstruktion einiger weniger hochqualifizierter Spieler, die – vielleicht angeregt durch italienische Ideen – neue Wege gingen. Die Technik der rechten Hand konnte allerdings nicht von der Laute übernommen werden, und hier entstand innerhalb einer einzigen Generation eine neue Bogentechnik.

VdG 01 k16

Lyra viol nach Henry I Jaye, London 1624, Paris E.73, gebaut von Neil Hansford, Mensur 66,2 cm.

Ebenso rätselhaft ist die Entwicklung der Komposition. Ausgehend von der Lautenpolyphonie – die jedoch auf einem Streichinstrument nur begrenzt übernommen werden kann, da benachbarte Saiten benutzt werden müssen – erprobte man neue Methoden der Komposition, die zuerst in Bearbeitung polyphoner Consortstücke die Originalkomposition gleichsam 'zerbrachen' und neu aufteilten. In extremen Fällen verselbständigte sich dieses System des 'Zerbrechens' in ein Auflösen jeglicher Melodik zugunsten eines rauschenden Klanges mit Tonvervielfachungen und außer-Acht-Lassen überlieferter Kontrapunktregeln, die für diese frühe Zeit erstaunlich anmutet und sich unterscheidet von Werken für mehrere Lauten. Während Lautentrios und -quartette meist für unterschiedliche Größen konzipiert sind, handelt es sich bei den Lyra viol-Duos und -trios mit sehr seltenen Ausnahmen stets um gleiche Größen, die sich jeweils in Baß- und Discantfunktionen abwechseln.

Der Grund für diese Neuordnung dürfte in Vorgaben zu suchen sein, die das Instrument selber erfordert. Die Möglichkeiten der Laute zur realen Polyphonie gibt es bei der Gambe nicht. Damit hätten wir wohl zum ersten Mal in der europäischen Musikgeschichte eine Kompositionstechnik, die nicht die Kontrapunktregeln dem Instrument überstülpt (und damit die Musik auch auf anderen Instrumenten möglich macht), sondern umgekehrt eine Spieltechnik, die die Regeln nach ihren Möglichkeiten geradezu verbiegt. Verbotene Parallelen, nachklingende Dissonanzen oder Klang zu Lasten melodischer Linien waren neu und unerhört. Leider gibt es zu dieser musikalischen Revolution keine zeitgenössischen Kommentare.

So etwas konnte nur Erfolg haben in einer Sphäre, in der die Beschäftigung mit Musik zu einem gebildeten Gesellschaftsspiel geworden war, wie es zu dieser Zeit am englischen Hof nach dem Tod Elizabeths I. Mode wurde. Diese Kreise waren wissenschaftlich interessiert und experimentierfreudig, und im Zuge akustischer Experimente wurde die Lyra viol mit einem zweiten Bezug von Metallsaiten bespannt, die sympathetisch mitklangen (und damit die Zuhörer noch mehr 'berauschen' konnten), womit sie zur Vorläuferin von Baryton und Viola d'amore wurde. Diese Erfindung hielt sich jedoch nicht lange, sondern verschwand spätestens nach der Mitte des 17. Jh., vermutlich aufgrund ihrer wetterabhängigen 'Launenhaftigkeit', die Spieler verlangt, die selber an ihrem Instrument Reparaturen ausführen konnten. Die höfischen Spieler waren dazu wahrscheinlich in der Lage, da Instrumentenbau und instrumentale Virtuosität sehr viel enger verbunden waren als heute.

Zeitgleich mit dem Resonanzbezug entstanden Stimmungen mit weitem Ambitus (2 1/2 Oktaven auf den leeren Saiten). Diese erste Epoche der Lyra viol ist als "professionelle Epoche" zu betrachten, und ihre Protagonisten gehören zu den Top-Stars der Szene: Alfonso Ferrabosco, Thomas Ford, William Corkine, William Lawes und John Jenkins. Sie dauerte ungefähr bis zum englischen Bürgerkrieg (ca. 1640).

Die zweite Epoche ist die "dilettantische Epoche", in der das Instrument zwar weiterhin auch von Professionellen gespielt wurde – z.B. John Jenkins – aber zunehmend zum Hobbyinstrument gebildeter oder auch weniger gebildeter Amateure geriet. Dementsprechend wurde die gesamte Faktur vereinfacht: Die Resonanzsaiten verschwanden zusammen mit der Polyphonie und den großen fantasia-ähnlichen Pavanen und Almaines, die Spieltechnik wurde leichtfüßiger und die Stücke gefälliger. Die Stimmungen mit weitem Ambitus kamen aus der Mode und machten Akkordstimmungen Platz, die weitgehend mit Stimmungen der aus Frankreich nach England importierten französischen Barocklaute identisch sind. Auch das Repertoire – zweiteilige "Lessons" analog zu den französischen "Pièces" – wurde dem der Laute sehr ähnlich.

Es gibt allerdings weiterhin deutliche Unterschiede zwischen Laute und Lyra viol. Während die Laute seit vor 1600 ihre Baßchöre ständig erweiterte, blieb das Gambeninstrument bei seinen sechs Saiten, obwohl es theoretisch durchaus möglich gewesen wäre, eine siebte oder gar achte Saite hinzuzufügen. Versuche in dieser Richtung – z.B. von William Young – blieben jedoch Einzelfälle, und die siebensaitige Gambe wurde erst populär in Frankreich in der 2. Jahrhunderthälfte.

Alte Quellen (John Playford, Peter Leicester, Christopher Simpson) beschreiben die Lyra viol als eine Baßgambe, kleiner als die Division viol oder gar den Consort bass. In der Praxis allerdings dürften die Unterschiede weniger einschneidend gewesen sein, vor allem zwischen Lyra viol und Division viol, da beide auch zuweilen austauschbar waren (Thomas Mace). Als reines Soloinstrument – es gibt nur wenige Werke für 2-3 Lyra viols, und außerordentlich geringe Spuren von Lyra viols im gemischten Ensemble, und auch dieses nur in der späteren Epoche – war die Lyra viol unabhängig von geltenden Stimmtönen, und wie eine Erwähnung bei Peter Leicester nahe legt, stimmte man sie in der Tonhöhe, die dem jeweiligen Instrument gemäß war. Das dürfte sich später geändert haben, als Division viol und Lyra viol miteinander verschmolzen, das Cembalo zuweilen hinzutrat, und sich die gesamte Musikkultur Europas in Richtung des Orchesters und festgelegter Stimmtöne bewegte. Diese Problematik ist sehr kompliziert und muß noch weiter erforscht werden.

Ausgehend von England faßte das Instrument auch auf dem Kontinent Fuß, hier allerdings nicht unter seinem englischen Namen, sondern in Deutschland oft unter dem Begriff "Viola bastarda". Michael Praetorius (1619) beschreibt bereits das Instrument mit Resonanzsaiten, und das hat später zu einigen Mißverständnissen geführt, denn dieser deutsche Terminus darf nicht verwechselt werden mit der italienischen Viola bastarda, die figurativ gespielt wurde, und deren englische Entsprechung die Division viol ist. Die akkordische Gambe wurde auch auf dem europäischen Festland zu einem beliebten Dilettanteninstrument, über dessen wohl öfter kümmerliche Spieler gelegentlich gespottet wurde. Es steht zu vermuten, daß viele Instrumente des späten 17. und frühen 18. Jh., die man heute für klassische Gambentypen hält und für den barocken Basso continuo einsetzt, aufgrund ihrer kleinen Mensuren und – soweit erhalten – flachen Griffbretter eher für derartige kammermusikalische Solo-Hobby-Zwecke gedacht waren.

Aufgrund der zahlreichen Stimmungen wurde die Musik in französischer Lautentabulatur notiert. Während in der Professionellen Epoche auch einige Drucke vom hohen Stand der Spieltechnik und des Ansehens des Instrumentes zeugen, sind es vor allem zahlreiche Manuskripte, die die Verbreitung belegen; die meisten natürlich in England, aber auch in Holland, Deutschland und Skandinavien, jedoch nicht südlich der Alpen. Dieser Stil des privaten Musizierens auf der Gambe hielt sich bis ins frühe 18. Jh. Nur ein einziger Druck wurde mehrfach wieder aufgelegt: Die "Musick's Recreation for the Viol Lyra=way" des John Playford, die jedoch von Auflage zu Auflage vereinfacht wurde und damit den allmählichen Abstieg des Instrumentes mitzeichnete.

Im 20. Jahrhundert war es vor allem Frank A. Traficante, der das Instrument aus der Vergessenheit holte.

Ausgewählte Literatur:
Traficante, Frank A.: Music for the Lyra Viol. The printed Sources, in: The Lute Society Journal 8 (1966), pp. 7-24
Traficante, Frank A.: Lyra Viol tunings: "All Ways have been Tryed to do It". in: Acta Musicologica 42 (1970), pp. 183-205
Traficante, Frank A.: Music for the Lyra Viol: Manuscripts Sources, in: Chelys 8 (1978/79), pp. 4-22
Annette Otterstedt, Die englische Lyra viol - Instrument und Technik, Kassel 1989

Annette Otterstedt

Link zur Quellenübersicht von Joëlle Morton:
https://www.violadagambanetwork.eu/lyra-viol-source-list/