Accords nouveaux

François-Pierre Goy & Andreas Schlegel

Von welchem de Saint-Luc stammen welche Kompositionen?

Diese Frage stellt sich, weil sowohl in den Musikquellen als auch in der zeitgenössischen Literatur nur jeweils von einem "Saint Luc" (oder "St. Luc") ohne Vorname gesprochen wird. Drei Personen kommen in Frage:

Jacques Lucas (1616-nach 1684)
Jacques-Alexandre (1663, 8. Juni: Taufe in der Kathedrale St. Michel et Gudule, Bruxelles)
Laurent (1669, 10. August: Taufe in der Kathedrale St. Michel et Gudule, Bruxelles)

Jüngst wurde von Manuel Couvreur der Eintrag von Laurent de Saint-Luc und Anna Maria Masson vom 4. Mai 1705 im Trauungsbuch Tomus 36 aus dem Domarchiv St. Stephan, Wien, auf Fol. 247 entdeckt. Somit steht fest, dass Laurent zur fraglichen Zeit in Wien war und somit liegt auch der Schluss nahe, dass es sich bei der Sammlung von Lautenstücken eines Saint-Luc, die Fürst Ferdinand August Leopold zu Lobkowicz (1655-1715) hat anlegen lassen, um Laurent handelt. Sein Tod muss nach 1708 eingetreten sein, zumal sich das späteste datierbare Stück auf die Einnahme von Lille bezieht, die 1708 stattgefunden hat.

Der jüngste Artikel von Manuel Couvreur mit dem Titel "Jacques and Laurent Lucas de Saint-Luc: Brussels Lutenists and Theorbists, Father and Son" ist abgedruckt in: Journal of the Lute Society of America (JLSA) LIV (2021), S. 63-73.
https://lutesocietyofamerica.org/publications/journal/

Das Saint-Luc-Werkverzeichnis (Saint-LucWV)

Zur Verwendung der Namen:
François-Pierre Goy macht darauf aufmerksam, dass „Lucas“ der ursprüngliche Familienname war und "de Saint-Luc" nur ein Name für einen Grundbesitz ist (nom de terre). Die Werke sind immer mit Saint-Luc und nie mit Lucas de Saint-Luc unterzeichnet. Es war damals üblich, den Familiennamen zugunsten des Names für einen Grundbesitz wegzulassen. Der Familienname „Lucas“ hat zudem den Nachteil, dass er für einen Vornamen gehalten werden kann, insbesondere wenn das "de" weggelassen wird.
Deshalb verwende ich Jacques de Saint-Luc und Laurent de Saint-Luc.

Für Jacques de Saint-Luc können bisher nur zwei Stücke nachgewiesen werden, welche beide im Theorbenbuch aus der Goëss-Sammlung eingetragen sind (A-ETgoëss Th): Es sind dies die Saint LucWV 77 und 78.
Dieses Manuskript gehört in die Gruppe der Goëss-Sammlung, die Pierre, Baron von Goëssen (1619?-1705) (und nicht wie bisher angenommen Johan van Reede [1593-1682]) als Hauptschreiber hat und enthält eine Bearbeitung des Marsches aus Lullys Oper Cadmus et Hermione, die 1673 uraufgeführt wurde. Somit muss dieses Manuskript zwischen 1673 und 1682 in den Niederlanden entstanden sein. Somit lassen sich diese zwei Kompositionen eindeutig Jacques Lucas zuschreiben.

Für Laurent de Saint-Luc existieren vier handschriftliche Lautentabulaturen, die sich gemäss den obigen Ausführungen auf zwischen 1708 und 1715 datieren lassen:
A-Wn Ms. Suppl. Mus. 1586
CZ-Pnm X.L.b.210
CZ-Nlob II.Kk.49
CZ-Nlob II.Kk.54
Drei der vier Lautenquellen enthalten Nummerierungen. Nur die Stücke in der Wiener Lautentabulatur sind nicht nummeriert. Nummerierungen verweisen auf separate Stimmhefte, hier für Oberstimme (Besetzung nicht näher bezeichnet) und Bass.
Zwei der drei Sammlungen sind komplett mit allen drei Stimmbüchern erhalten: CZ-Nlob II.Kk.49 und 54.

Neben diesen Quellen existieren vier Drucke mit Musik von Laurent de Saint-Luc:
- Suites pour le luth avec un dessus et une basse ad libitum, im Mai 1709 (livre premier) und im Jahre 1710 (livre second) angekündigt, erschien in Amsterdam bei Estienne Roger.
- Preludii, allemande, correnti, gighe, sarabande, gavotte &c. pour un dessus & une basse ... livre premier (-second). [Amsterdam, Pieter Mortier]
Von diesen Drucken sind nur die Violin-Stimmhefte erhalten. Sie sind inhaltlich identisch, aber auf jeweils eigene Platten gestochen. Die Stücke sind von 1-44 (livre premier) und 45-82 (livre second) durchnummeriert.

Diese Drucke weisen mit Nachdruck darauf hin, dass Laurent de Saint-Luc zweistimmig konzipierte Musik gedacht und diese auf die Laute gebracht hat. Bei der kammermusikalischen Aufführung verdoppeln die Aussenstimmen den Lautensatz bzw. umgekehrt, wobei die Oberstimme der Laute eine Oktave tiefer klingt als die Oberstimme.
Was aussieht und beim Spielen der Tabulatur wie ein Solo-Stück wirkt, ist also in Trio-Besetzung gedacht mit verdoppelnden Aussenstimmen.

Fassen wir die Quellensituation mit erhaltenen Lautenstimmen zusammen:

Quelle Art des Stimmbuchs für Laute Nummerierung in Lauten-Stimmbuch Oberstimme Bass
A-Wn Ms. Suppl. Mus. 1586 leere Systeme in Kupferstich nein --- ---
CZ-Pnm X.L.b.210 mit Rastral gezogene Linien vorhanden --- ---
CZ-Nlob II.Kk.49 leere Systeme in Kupferstich vorhanden vorhanden vorhanden
CZ-Nlob II.Kk.54 leere Systeme in Kupferstich vorhanden vorhanden vorhanden

Von den 426 bekannten Überlieferungen sind nur drei Stücke (diejenigen von Jacques) ausserhalb der Lobkowitz-Sammlung bekannt: zwei im Goëss Theorbenbuch sowie ein Menuet (für Gitarre, entdeckt von François-Pierre Goy) in F-Pn Rés. 844 (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52500814k/f310.item).
110 Stücke sind in zwei Quellen erhalten.

Als Kammermusik vorgesehen sind 340 Stücke (80%). Zu 174 Stücken (41%) besitzen wir das Stimmenmaterial.

Interessant sind die Lautenbücher, die auf Papier geschrieben sind, das im Kupferstichverfahren mit sechs vorgedruckten Systemen zu 6 Linien (also für Tabulatur) bedruckt wurde. Im Hochdruckverfahren hergestellte Bücher mit vorgedruckten Notenlinien (z.B. von Ballard) sind weit verbreitet – nicht aber im Tiefdruckverfahren gemachte Bücher (hier mittels Kupferstich).

Aufbauend auf die unten aufgeführten Arbeiten von Douglas Towne und Christian Lauermann habe ich nun ein Saint-Luc-Werkverzeichnis erstellt, das hier heruntergeladen werden kann:

- Gesamtverzeichnis nach Werknummer des Saint-LucWV
- Gesamtverzeichnis nach Werknummer der Werke von Jacques de Saint-Luc
- Gesamtverzeichnis nach Werknummer der Werke von Laurent de Saint-Luc
- Quelle A-Wn Ms. Suppl. Mus. 1586, geordnet nach Stück-Nummer
- Quelle CZ-Pnm X.L.b.210, geordnet nach Stück-Nummer
- Quelle CZ-Nlob II.Kk.49, geordnet nach Stück-Nummer
- Quelle CZ-Nlob II.Kk.54, geordnet nach Stück-Nummer
-
Quellen Violin-Stimmhefte, geordnet nach Nummer

Ich bin dankbar für Ergänzungen und Korrekturen.

Literatur:

Manuel Couvreur: Jacques and Laurent Lucas de Saint-Luc: Brussels Lutenists and Theorbists, Father and Son, in: Journal of the Lute Society of America (JLSA) LIV (2021), S. 63-73.
https://lutesocietyofamerica.org/publications/journal/

Manuel Couvreur: Einführungstext im Booklet zur CD “Laurent de Saint-Luc. Pièces pour luth”, Evangelina Mascardi, Laute, s.l.: Musique en Wallonie (MEW) 1786, 2018.

Douglas Towne (Hrsg.): Pieces for Lute by Jacques Alexandre de St. Luc, in: The LSA Quarterly Digital Supplement no. 1 (2017), pp. 38-86 (= part 1); The LSA Quarterly Digital Supplement no. 2 (2017), pp. 4-55 (= part 2); The LSA Quarterly Digital Supplement no. 3 (2017), pp. 3-68 (= part 3).

Christian Lauermann (Hrsg.): Jacques Alexandre de Saint Luc. Gesammelte Lautenwerke, Vol. 1 = Ms. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Musikabteilung, Suppl.mus. 1586; Vol. 2 = Praha, Národni muzeum, hudebni oddeleni, Ms. X. Lb. 210 & Praha, Národni knihovna CSR, Universithi knihovna II.Kk-49, Emmendingen: Seicento, 2007.